Wenn Insekten über Leichen gehen, dann kommt er – Interview
10. Dezember 2020 • Artikelserie Kriminaltechnik & Forensik

Bild: Jan-Markus Holz, lebensART
Marcus Schwarz, geboren 1987, hat Forstwissenschaften an der TU Dresden studiert und sich in seiner Masterarbeit auf die Insektenkunde spezialisiert. Anhand eines toten Schweines im Wald dokumentierte er die Wechselwirkung zwischen Leichen und Waldsystemen. Seit 2015 arbeitet er als forensischer Entomologe und Wundballistiker1 am Institut für Rechtsmedizin der Medizinischen Fakultät der Uni Leipzig. Als einer von nur sechs Experten in Deutschland wird Marcus Schwarz als Gutachter zu Todesfällen aus Sachsen, Sachsen-Anhalt, Brandenburg und mittlerweile auch Hamburg gerufen. Im April 2020 veröffentlichte er sein erstes Buch „Wenn Insekten über Leichen gehen“, in dem er von einigen seiner Fälle berichtet und Einblicke in die Theorie der forensischen Entomologie gibt.
Sein aktuelles Forschungsprojekt ist jedoch lebenden Menschen gewidmet. Zusammen mit der Mikrobiologie forscht er daran, wie verschiedene Fliegenmaden für die Wundversorgung bei Patienten eingesetzt werden könnten. Zudem befasst er sich im Rahmen seiner Doktorarbeit mit Käferarten und deren Funktion als Speicher für Drogen und Medikamente. Neben Forschung und Promotion gibt Schwarz auch regelmäßig Seminare für Studenten und Polizisten.
Wie die Leichenliegezeitbestimmung im Winter funktioniert, welche Insekten seine Augen besonders zum Leuchten bringen und vieles mehr, gibt’s jetzt hier im Interview.
Herr Schwarz, bei meiner Recherche habe ich immer wieder Sätze gelesen, dass die Leichenliegezeit auch noch „nach Wochen“ relativ genau bestimmt werden kann. Andere Quellen sprachen von „wenigen Wochen“ oder „ein bis zwei Wochen“. Wie genau ist „Wochen“ definiert und ab wann wird es für Sie schwierig?
Marcus Schwarz: „Nach Wochen“ ist natürlich immer eine Frage der Temperatur. Bei hochsommerlichen Temperaturen, angenommen 35 Grad Außentemperatur, sind die Fliegenmaden so schnell fraßaktiv, dass die erste Generation innerhalb kürzester Zeit schon wieder abwandert. Kommt dann eine zweite Generation, wahrscheinlich numerisch noch verstärkt, dann ist ein Großteil vom Leichnam auch einfach schon weg. Und wenn die Generation dann abfliegt, wird es schwierig. Im Sommer können wir es nach zwei Wochen vergessen, wobei die Geruchsentwicklung in den Sommermonaten natürlich wesentlich stärker ist und Leichen in der Regel schnell gefunden werden. Bei herbstlichen Temperaturen, beispielsweise 10 Grad und Fliegenarten, die langsam wachsen, können wir auch nach Wochen die Liegezeit relativ genau bestimmen. Somit ist das eher immer eine Frage des Biotops. Die Natur ist aber natürlich nicht stringent ist und kopiert sich nicht immer in ihren Vorgängen. Jeder Fall ist unterschiedlich und deswegen auch immer mit Erfahrungswerten zu bewerten. Nach drei Wochen Leichenliegezeit würde ich nie auf den Tag genau sagen, wann eine Person gestorben ist. Das sind dann immer Zeiträume von ein, zwei Tagen, weil man eben nicht weiß, wie genau sich die Entwicklung jetzt abgespielt hat.
Sie haben jetzt primär von Fliegen gesprochen. Es kommen aber ja auch Käfer. Sind diese dann nicht so aussagekräftig, oder?
Schwarz: Ja, das ist genau der Punkt. Wir wissen, dass verschiedene Käfer erst am Leichnam erscheinen, wenn z. B. das zweite Larvenstadium einer Fliege vorhanden ist oder wenn die Leiche einen bestimmten Zustand erreicht hat. Manchmal werden diese Zustände aber bei warmen Temperaturen z. B. auch einfach übersprungen. Bei den Käfern findet man im Wohnumfeld vor allem die Speckkäfer. Wenn eine Leiche ein Jahr in der Wohnung gelegen hat und nur noch als Skelett vorhanden ist, sind besonders die Speckkäfer interessant.
Die Umgebungstemperatur spielt bei der Insektenbesiedelung eine sehr bedeutende Rolle. Fällt sie unter einen bestimmten Bereich, können sich je nach Art keine Insekten mehr entwickeln. Wie funktioniert die Liegezeitbestimmung denn bei kalten Temperaturen im Winter? Etwa bei Minusgraden?
Schwarz: Bei Minusgraden ist wirklich nichts mehr zu holen. Insekten sind ja wechselwarme Tiere und wenn man den ganzen Tag über Minusgrade hat bzw. die Tages- oder auch die stündliche Durchschnittstemperatur nicht über zwei oder drei Grad Celsius geht, dann ist wirklich Ruhe in der Entwicklung. So ein Tier braucht Wärmeenergie, um sich zu entwickeln. Damit es sich bewegen und fressen kann, muss Wärmeenergie von außen zugeführt werden. Wenn man jetzt weiß, wie viel Energie in Form von aufsummierten Wärmeeinheiten für die Entwicklung benötigt wird, kann man auch in der kalten Jahreszeit die Liegezeit bestimmen. Dafür sind die sogenannten Accumulated Degree Hours (ADH) notwendig. Wenn man beispielsweise von vier bis acht Uhr zehn Grad Celsius hat, dann kommt man für diesen Zeitbereich auf 40 ADH. Man summiert also vier Mal diese zehn Grad auf. Und nach diesem Prinzip werden Tag für Tag und Stunde für Stunde die durchschnittlichen Temperaturwerte aufsummiert. Und wie viele ADH eine Made beispielsweise vom Ei bis zum dritten Larvenstadium benötigt, ist für viele Insektenarten und für verschiedenen Temperaturbereiche bekannt, weswegen auch bei kalten Temperaturen Aussagen gemacht werden können.
Dabei wird zunächst erst mal geschaut, an welchem Tag es per Durchschnittstemperatur überhaupt möglich war, sich zu entwickeln. Bei Tagesdurchschnittstemperaturen im Minusbereich oder unter zwei Grad, fallen diese Tage komplett raus. Ab Temperaturen über zwei bis drei Grad je nach Fliegenart, kann man dann schon Werte ermitteln.
Gibt es Besonderheiten bzw. Unterschiede bei der Insektenbesiedelung bei aufgehängten Körpern?
Schwarz: Auf jeden Fall. Man muss sich natürlich immer die Leiche angucken. Hat man eine übergewichtige Leiche, hat man einen relativ hohen Fettanteil und vergleichsweise wenig Wasser und Fett trocknet sehr schlecht aus. Wenn man einen normal gebauten Körper in den Wald hängt, dann trocknet die Leiche, zumindest bei Kiefern- und Fichtenbeständen, aus wie ein Schinken. Das Problem für die Fliegen besteht dann nämlich darin, dass die Leiche schneller austrocknet als die Fliegenmaden fressen können. Die Flüssigkeit tropft nach unten weg und wenn die Körper wirklich hängen und keinen Kontakt mehr zum Boden haben, trocknen die ganz schnell aus. Das geht an den Extremitäten los, dann am Schädel und alles, was im Brust-Bauchbereich ist, fließt über die natürlichen Körperöffnungen nach unten weg.
Also sind die Insekten dann auch eher unten in der Flüssigkeit, solange die noch da ist?
Schwarz: Genau. Die Pfütze, die sich dann am Boden bildet, stellt auch ein interessantes Biotop dar. Da findet man Stutz- und Kurzflügelkäfer, die dort effektiv nach den Fliegen jagen und da ist richtig Bewegung drin. Das hängt aber wie gesagt vom Waldbestand ab. Wenn ich jetzt jemanden in den Mischwald hänge, der feucht ist und eine hohe Luftfeuchtigkeit bei gleichzeitig hoher Wärme hat, dann kann es auch in eine komplett flüssige Verwesung übergehen. Dann reißt irgendwann im Halsbereich der Kopf ab und die Leiche fällt nach unten. Demzufolge geht die Zersetzung natürlich anders weiter. Wichtig ist, dass man sich immer anschaut, wie die Leiche aussieht und wie das Biotop aussieht. Das geht immer Hand in Hand.
Wie oft im Jahr ca. werden Sie als forensischer Entomologe an einen Fundort gerufen?
Schwarz: Puh, also das nimmt von Jahr zu Jahr zu, weil sich das Einzugsgebiet auch vergrößert hat. Anfänglich waren das immer so vier bis sieben Fälle im Jahr, heute sind es 15-20. Mittlerweile wird es aber so viel, dass Gutachten auch eine Zeitlang liegenbleiben müssen. Das betrifft dann all die Fälle, die eine reine Nachfrage zur Leichenliegezeit beinhalten und wohinter kein relevantes Tötungsdelikt zu erwarten ist.
Wenn Sie dann vor Ort sind: Wie lange dauert die Begutachtung und Asservierung ungefähr?
Schwarz: Das kommt immer drauf an. Wenn die Kriminaltechnik mit ihren DNA-Sicherungen durch ist, dauert die Asservierung und Fotografie eine bis anderthalb Stunden. Zusammen mit dem Rechtsmediziner dreht man dann auch die Leiche, begutachtet die Verletzungen und nimmt aus einzelnen Verletzungsherden noch einmal Proben. Grob ein bis zwei Stunden dauert das dann schon. Als nächstes geht’s auch dann gleich zur Sektion, wo eine zweite Asservierungsrunde stattfindet.
Das wäre auch meine nächste Frage gewesen. Ob Sie bei den Sektionen mit dabei sind.
Schwarz: Ja. Bei den meisten Fällen, zu denen ich gerufen werde schon. Das ist eigentlich genau so wie mit dem Fundort. Ich muss den Ort gesehen haben und ich muss die Leiche gesehen haben. Und meistens ist es eben so, dass sich die größten Madenexemplare, die für die Leichenliegezeit ja am relevantesten sind, in den Verletzungsherden innerhalb des Leichnams aufhalten.
Es gibt ja keinen direkten Ausbildungsweg in die forensische Entomologie. Wie kommen Interessierte denn da am besten rein?
Schwarz: Das ist schwierig. Ich bekomme regelmäßig Praktikumsanfragen, habe aber in der Regel einfach keine Zeit nebenbei jemanden zu betreuen. Wenn ich Praktikanten habe, dann suche ich mir einen pro Jahr aus und da jemanden, der am aussichtsreichsten ist und bei dem der Standort auch stimmt. Es ist nämlich so, dass die Auftragslage nie ausreicht, zwei Entomologen an einem Standort zu halten, abgesehen vom LKA Bayern. Und es bringt eben nichts, wenn man jemanden ausbildet und derjenige dort gar nicht eingesetzt werden kann.
Bei den Forensik-Studiengängen ist das Problem, dass den Studierenden oft ein falsches Bild vermittelt wird, was daraus mal werden kann. Diese Leute werden nie in die Kriminaltechnik gehen, nie in die Molekulargenetik gehen, weil man dafür Biologen braucht. Und in vier bis acht Wochen Praktikum kann ich solche Leute nicht in die Grundabläufe einarbeiten, wenn ihnen die Basics wie Ökologie, Pflanzen-, Boden- und Klimakunde fehlen. Die können zwar irgendwann ein Insekt von einem Bestimmungskatalog bestimmen, aber damit kann ich erst mal noch nichts anfangen.
Also ist ein Biologiestudium nicht unbedingt verkehrt?
Schwarz: Das Biologiestudium ist mittlerweile so weit vom makroskopischen abgerückt, dass es nur noch Mikrobiologie oder vielleicht nur noch Molekularbiologie ist. Dort gibt es zwar auch Ansätze für die Ento-mologie, dass man die Insekten molekularbiologisch untersucht, das ist auch für die Forschung interessant aber für die gutachterliche Tätigkeit einfach noch zu teuer. Die Entomologie als Kernaufgabe, also das Sammeln, die Bestimmung und die zeitliche Festlegung, da bin ich mit Forstwissenschaften wirklich gut bedient. Man lernt Bodenkunde, Pflanzenkunde und Insektenkunde sowieso, weil die natürlich für das Ökosystem Wald eine riesige Rolle spielen. Aber den stringenten Weg zu sagen: „Ich studiere jetzt Biologie und werde dann forensischer Entomologe“, sehe ich halt relativ schwierig.
In Deutschland gibt es aktuell nur sechs Experten für die forensische Entomologie. Warum ist das so?
Schwarz: Die Kostenfrage ist leider in allen forensischen Bereichen das Problem. Die medizinischen Fakultäten, wo die rechtsmedizinischen Institute meistens angeschlossen sind, aber auch die Universitäts-kliniken arbeiten, wenn sie privatwirtschaftlich arbeiten, immer mit dem Auge auf positive Zahlen. Und Forensik kostet einfach Geld. Wir erarbeiten hier keinen Mehrwert im Sinne von: wir retten Leben oder forschen in der Krebsdiagnostik oder in der Diabetologie, wo Millionengelder hineinfließen. Einen Mehrwert erreicht man, wenn man die Interdisziplinarität des Fachs berücksichtigt. Beispielsweise könnte die Rechtsmedizin dazu beitragen, PKWs sicherer zu machen, in dem man sich anguckt, woran die meisten Unfallopfer sterben. Da könnte man dann mit den Automobilherstellern ins Gespräch treten. Aber solange ein solcher Mehrwert nicht da ist, ist die Forensik ein defizitäres Fach, bei dem man immer begründen muss, warum man Geld braucht. Auch ich muss trotz der steigenden Aufträge alle zwei Jahre um eine Verlängerung meines Vertrages kämpfen.
Um mit einer etwas auflockernden Frage zu enden: Haben Sie ein Lieblingsinsekt?

Schwarz: Ja, tatsächlich. Eigentlich alle Vertreter der Rosenkäfer. Das sind sehr schöne Tiere, die kann man sich sogar als Haustier halten. Viele Arten sind total pflegeleicht, andere kleine Mimosen. Da gibt es auch direkt Wettbewerbe unter den Entomologen, wer die schönsten Tiere hat. Manche Arten haben einen Seltenheitswert und werden auch in Sammlungen bei Privatleuten am Leben erhalten und untereinander getauscht. Das ist dann so ein bisschen wie Pokémon.
Sie haben aber keine zu Hause?
Schwarz: Nein. Ich habe ja mehr oder weniger tagtäglich mit Insekten zu tun. Das Einzige, was ich mir dauerhaft halte, sind Speckkäfer, weil wir die nebenbei noch zur Mazeration2 benutzen, wenn beispielsweise Feinknochenpräparate angefertigt werden müssen.
Als aller letztes, würde ich gerne noch wissen: Was ist die nervigste Journalistenfrage, die Sie immer wieder gestellt bekommen?
Schwarz: „Ekeln Sie sich nicht?“ – Doch, ich mache diesen Job seit fünf Jahren unter Qualen. Eine andere beliebte Frage ist auch: „Wie finden das denn Ihre Freunde und Familie?“ – Naja, ich habe keine Freunde und Familie mehr, weil die sich von mir abgewendet haben. Oder auch: „Nehmen Sie das mit nach Hause?“ – Ja, ich bin schwer depressiv durch meinen Job geworden. Ist natürlich völliger Quatsch. Aber das sind wirklich die regelmäßigen Fragen, die jedoch auch mit dazu gehören.
Herr Schwarz, vielen Dank für das spannende Interview.
Marcus Schwarz
M.Sc. Forstwissenschaften
Forensischer Entomologe
Sachverständiger für Wundballistik
Johannisallee 28
04103 Leipzig
Instagram: @marcus.schwarz.forensik
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[1] Als Wundballistik bezeichnet man die Lehre vom Verhalten von Geschossen beim Eindringen in einen Körper. Marcus Schwarz hat im Zuge seines Studiums seinen Jagdschein gemacht und kennt sich als Jäger mit Schusswaffen aus. Am Institut forscht zu verschiedenen Schusswaffen und Munitionstypen. ↩
[2] Damit für die Anfertigungen von Knochenpräparaten nur noch das Rohskelett übrigbleibt, müssen Haut-, Muskel-, Fett- und Bindegewebsanteile entfernt werden. Die Mazeration mit Kleinlebewesen wie Speckkäfern stellt eine Möglichkeit dazu dar, da sie das Gewebe an den Knochen sauber abfressen können. ↩
Vielen Dank für dieses tolle Interview! Es hat mir beim Ausarbeiten meiner komplexen Leistung sehr geholfen 🙂